Vom Car Tex an den Meeresgrund
Störtebecker Denkmal - Tina Henkel




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Ich fahre mit dem Fahrrad die Süderstraße hinunter. Falsch daran ist das Fahrrad. Das denke ich, das denkt der mich überholende Fahrer eines Ford-Transit, der knapp vor mir einschert und mir zu verstehen gibt, dass ich hier nicht hingehöre. Rechts von mir Car Tex, auf der linken Seite Auto Pflege und Reinigung mit System. Dann kommt Auto Schilder Discount, A&N Autolackierung, Peugeot, Euro Master, Europcar, Alaa Eddine Car Service. Es wird industrieller. Die Autohäuser verlieren ihre Namen, an einigen Stellen gibt es noch Hinweise wie ‚Ankauf von Autos aller Art‘. Dann am Horizont die Siegessäule. Moment mal, falsch, falsche Stadt, falsche Ecke. Ich nähere mich einem riesigen Straßendenkmal. Was ausschaut wie eine Verpartnerung des großen Sterns in Berlin mit dem Dämonium, der größten mobilen Geisterbahn der Welt, ist beim erneuten Aufblicken eine Granitsäule auf dessen Kapitell ein Zweimaster thront oder schwebt oder fährt. Ziemlich viel Prunk. Die vermutete einsetzende Peripherie wird gebrochen von einem Schiff, dessen Bug ca. 20 Meter über mir in Richtung Elbe und Hafen zeigt. Weird. Im um die Säule herum angelegten Kreisverkehr, überlässt mir der Fahrer eines Mercedes Oldtimers den Vortritt. Er umschifft den Kreisel ohne Servolenkung. Das Bild schaut entsprechender aus, als der Clash der aufkommt, zwischen mir, in einem Weekday-Zipper der letzten Saison von 2022, dem benachbarten Apartment Hotel aus den 80er Jahren, was ein bisschen nach Ostsee ausschaut und dem völlig irre daherkommendem Störtebekerhaus. Klinker, Zierde, Sandstein, Granit, verspielte architektonische Details, Wappen, Uhren, Flaggen, ein Glockenspiel, welches die Köpfung Störtebekers und anderer Seemänner nachspielt, etwas Goldenes und Kunststofffenster. Aus der Ferne frühes 20. Jahrhundert, aber hier aus unmittelbarer Nähe entlarvt man die Rekonstruktionsarchitektur vom Vorkriegshamm, aus dem Jahr 2005, schnell. Die Negierung des Krieges in Architektur halte ich für gefährlich. Im Erdgeschoss ein indischer Imbiss, der Pizza und Pasta verkauft und eine Autovermietung. Zum Glück auch im Störtebekerhaus ein Autoindiz. Passend zum Upper-Class-Antlitz die Upper-Class-Autovermietung: Starcar.

Ich blicke wieder in den Himmel zum Schiff. Es wirkt so falsch und künstlich, schaut aus wie von Playmobil. Wolf Vostells Zwei Beton-Cadillacs hätten nach all dem Autocontent auf der zurückgelegten Strecke in der Süderstraße, besser gepasst denke ich. Mit dem fehl am Platz sein bin ich nun nicht mehr allein. Wieso mein Fahrrad, wieso das Schiff?

Ich setze mich auf den Kreisel und beobachte den Verkehr.

Es wechseln sich langsame Fahrschulautos ab mit teuren SUVs. Gelegentlich biegt ein LKW in den Kreisverkehr ein, oder der 112er Bus. Dann wird es eng auf dem Seeweg um meine kleine Insel herum. Ein Mercedes aus Neumünster, ein Mercedes aus Hamburg, ein Transporter aus Winsen Luhe.

Das Schiff über mir und den Autos, lässt uns am Meeresboden herumdümpeln. Wie Wracks floaten die Metallkorpusse umher und verschwinden in Richtung Norden, Osten, Süden und Westen in den Ausfahrten von Borstelmannsweg und Süderstraße. Ich bleibe auf meiner Verkehrsinsel. In der Ferne erklingt ein Glockenturm. Ich kenne hier keine Kirche in der Nähe, für einen kurzen Moment kann ich mich aber doch ganz gut ins 14. Jahrhundert denken, oder wann auch immer Störtebeker so unterwegs war. Erstaunlich oft begegnet der mir. Seine Heroisierung verstehe ich aber nicht so ganz. In Ostfriesland, wo ich aufgewachsen bin, hatte er eine Romance, auf Rügen gibt es diese ihm gewidmeten Festspiele, im Budni wird Störtebeker Atlantik Ale verkauft und in Hamburg wurde er hingerichtet. Die einen finden seine Piraterie geil, andere erfreuen sich daran ihm den Kopf abgeschlagen zu haben, wieder andere zelebrieren die Unschlagbarkeit seines darauffolgenden 12m Walks ohne Kopf.

Ein Mercedes, ein Škoda, ein Ford, ein Mercedes. Ich fühle mich sicher auf meiner Insel, vier auf kleinen Holzböcken installierte Kanonen beschützen mich und Störtebekers-Phallussäule vor Autos und anderen Gefahren. Die vier Kanonen sind kompassartig ausgerichtet. Alles ist so symmetrisch. Ich entdecke kleine Inschriften auf den Kanonen. Jede Kanone trägt einen Namen. Sie heißen Égalité, Fraternité, Liberté und Hammonia.




Égalité beschießt das Apartment Hotel

Fraternité beschießt die Süderstraße 259

Liberté die Alfred Ernst & Co. Spedition

Hammonia das Störtebekerhaus




Aha okay, Französische Revolution. 1789, glaube ich. Erklärung der Menschenrechte. Und Hammonia, die kenne ich vom Hansaplatz, die weibliche hamburgische Stadtgöttin.

Ich google den Störtebekerkreisverkehr und finde drei Einträge auf: www.stone-ideas.com, auf drohnen-forum.de und beim Submission-Anzeiger Verlag. Im Drohnen-Forum schreibt Jens unter seine Störtebeker-Kreisverkehr-Aufnahme, dass er es mal so ‚by the way‘ gefilmt hat, als er von den Harley-Days nach Hause gefahren ist. Stone-ideas.com und der Submission Anzeiger sind aufschlussreicher. Die Säule ist aus schwarzem, poliertem Gabbro. Sie erhebt sich auf einem Sockel aus dunkelrotem Granit G804. Beauftragt und geplant hat den Bau Achim Becker.




„Kommen Sie bitte herein!“

„Der Hausherr ist Achim Becker. Reich geworden ist der Geschäftsmann, durch den Handel mit Briefmarken, später mit Münzen und Gold.“

„Hier haben wir einmal 10 Dukaten Hamburg, mit der Stadtsilhouette Hamburgs, kostet um die 20 – 25.000 Euro. Dann haben wir hier die teuerste deutsche Silbermünze, von 1917. Hier wurden 100 Stück geprägt, kostet heute so 70 – 100.000 Euro.“

„Störtebeker ist so etwas wie sein Vorbild. Wenigstens, was die Beschaffung seiner Ware angeht. Sich wie ein Freibeuter auf die Gelegenheiten stürzen, wenn sie sich ergeben.“




Ich habe ein Problem mit Geld. Vor allen Dingen mit Münzen. Sie sind überall. Am Boden meines Rucksackes, in Hosentaschen, Blumentöpfen, in der Waschmaschine, in den tiefen Schluchten zwischen den Dielen, selten in meinem Portemonnaie. Solange es mich überall umgibt, scheint ja alles okay zu sein. Achim Becker könnte das anders sehen. Wer weiß, was mir da schon alles entgangen ist an ruhmreichen, seltenen Sammlereuros. Meine Oma könnte es auch anders sehen. Bevor der Euro eingeführt wurde, besaß sie ihn schon. Das müsste ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate vor der offiziellen Einführung gewesen sein. Ich erinnere mich dran, wie ich als Kind in ihrer Küche saß und Herbert, der Nachbar, die ersten Euromünzen in einem kleinen Samtsack vorbeibrachte. Am aufregendsten war der 5 Euro Schein. Alle waren ein bisschen wehmütig dem 5 Markstück gegenüber, aber auch neugierig und stolz auf das frische Geld. Das war der Beginn ihrer Münzenfaszination. Mich wiederum faszinierte ihre Leidenschaft zum Sammeln. Sie kaufte sich ein Buch, die Euro-Collection, in welches jeder Euro aus jedem Land vorgedruckt war, mit einer passepartoutartigen Ummantelung, in die man später passgenau den Euro reindrücken konnte, wenn man ihn denn fand.  




Das meine Oma sich das Münzensammeln zum Hobby nahm ist und bleibt grotesk. Meine Oma hat kein Geld. Sie hat nie in einer Lohnarbeit etwas verdient, noch war es ihr ein Anliegen in etwas zu investieren oder Dinge zu besitzen. Alles, was sie zum Leben brauchte, wurde selbst angebaut, auf verschiedenste Art und Weise haltbar gemacht, getauscht, oder von der geringen Rente meines Opas im Discounter gekauft. Der Besuch im Discounter passiert aber eben nur sehr selten, weil sie die Praxis des Commoning, sehr gut beherrscht. Dann hofft sie an der Kasse auf ein kleines Zeichen was ruft: Liberté, Égalité, Fraternité, auf einen Kopf von König Juan Carlos dem ersten oder Willem Alexander. Ein Stück Griechenland, Slowenien oder Belgien in ihren Händen.

Meine Oma ist nie verreist. Die Länder kennt sie aus dem Fernsehen oder von der Euromünze. Einmal nur ist sie ins 100 Kilometer entfernte Emsland mit dem Fahrrad gefahren. Aus lauter Urlaubsahnungslosigkeit und der Überforderung der Entspannung, des Nichtstuns, sammelten meine Oma und mein Opa Pfand. Ich hoffe, dass im eingelösten Wechselgeld eine seltene Münze aus Vatikanstadt dabei war.




Achim Becker sagt „Der eine kauft sich ein Auto für 125.000 Euro, oder eine Segelyacht, oder fährt in den Urlaub. Das mache ich alles nicht.“




„Sein Motto zum reich werden: Erst der Fleiß, dann der Preis.“




Ich sitze immer noch auf Achim Beckers Preis. Es ist Spätsommer. Am Kreisverkehr in der Süderstraße spielt die Jahreszeit aber keine Rolle. Mich umgibt ein schmerzhaftes Gefühl. Alles ist artifiziell und beabsichtigt geplant. Es gibt keine Leerstellen, keine Zwischenräume, keine Natur. Eis Gino fährt vorbei und klingelt auf dem Speditionsparkplatz, keiner möchte ein Eis, Eis Gino fährt wieder weg. 4 Männer in sehr sauberen Nike Turnschuhen betreten das Störtebekerhaus. Ein anderer Mann mit einem E-Viper läuft vorbei.

Ich frage mich, wo die Menschen herkommen, was sie hier tun. Ob sie im indischen Imbiss essen waren? Ob sie ein Auto bei Starcar mieten wollen? Ob sie ein Wochenendtrip nach Hamburg gebucht haben und sich vom Werbeversprechen des Apartment Hotel Hamburg Mitte ins Industriegebiet haben führen lassen? Hinter dem Kreisverkehr startet eine Wohnsiedlung von Hamm-Süd. Kreisverkehre an Ortseingängen sind in der Verkehrslogik angelegt, um Fahrer*innen auszubremsen und natürlich, um sie abbiegen zu lassen und Ampeln zu vermeiden. Im Kreisel ist es egal was ausbremst. Es kann ein Betonklotz sein, eine hochgewachsene Begrünung, oder eben Kunst. Wie sie daher kommt – auch egal. Das waghalsige an der Kreiselkunst ist, den schmalen Grat zu finden zwischen, auffallend und langweilig. Fahrer*innen sollen bemerken, dass es sich lohnt zu bremsen, weil ein Hindernis kommt. Fahrer*innen sollen aber nicht so sehr abgelenkt werden, dass sie all ihre Aufmerksamkeit dem Kunstwerk widmen. Was also zu sehr irritiert, zu komplex und vielschichtig ist, fällt durch den Kreisverkehr-Ethos. Ich fand das Leben auf dem Land an sich immer schon auffallend langweilig. Das einem in der Langeweile die auffällige Langeweile auffällt, ist gar nicht so einfach, jedenfalls für mich. In Achim Beckers Vision des Vorkriegshamms, reiht sich der Störtebeker-Kreisverkehr ins Setting der großen Metropol-Kreisel ein. Um den Columbus-Circle in New York, die Siegessäule in Berlin oder den Obelisk von Luxor in Paris zu umrunden, braucht man Zeit und Konzentration. Hier in Hamm-Süd geht es ganz schnell. Sich bei der Gestaltung an der Ikonographie der Weltmetropolen zu orientieren, mag überheblich und versnobt daherkommen. Was Achim Becker aber gelingt, ist eine gute Verschmelzung der Peripherie und der Großstadt. Die Irritation im Spiel mit Raum und Zeit befeuert das Wechselspiel aus Langeweile und Aufregung on point. Man beginnt den Vorortcharakter zu überdenken. Die Außenstadt kann sich international messen. Die Repräsentation vom Regionalstolz, die in ländlichen Regionen in Kreiselkunst zum Ausdruckt gebracht wird, ist hier allerdings der Stolz eines einzelnen Mannes. Achim Becker möchte an Störtebeker erinnern und vielleicht auch ein bisschen an sich selbst.




Zuhause laufe ich noch ein paar Mal auf Google Maps durch den Kreisverkehr. Digitales Durchdrehen. Die Realität hätte mich dafür belangen können. Es gibt das Verbot des ‚unnützen Hin- und Herfahrens‘, was ein mehrmaliges Umrunden des Kunstwerks zur gefälligen Betrachtung theoretisch mit einer Bußgeldstrafe belegt. Ich guck mir noch ein anderes Imagevideo von Achim Becker an. Es heißt ‚Der Phoenix aus der Asche‘. Da wo gerade noch die Süderstraße 259 von der Fraternité-Kanone beschossen wird, soll bald ein neuer Tower stehen.




„Das Gebäude erinnert mit seinen modernen Glasfassaden an New York, oder an Dubai und soll den Hamburgern zeigen, dass Hamm wieder da ist. Das vier Etagen hohe Entrée, wird mit Palmen und einem Springbrunnen wie eine Oase, mitten in dem neubelebten Viertel, wirken. In den oberen zwei Stockwerken sind Eigentumswohnungen und Penthouses geplant, denn der Blick auf Hamburg und seine Wasserwege wird von hier oben gigantisch sein. Und für die Besucher und Anwohner, die es ganz besonders eilig haben, steht auf dem Dach des Gebäudes ein Helikopterlandeplatz zur Verfügung.“




Okay Achim Becker – the sky is the limit. Wir teilen wohl mein neues Lebensmotto. Ich browse weiter. ‚22 Millionen Euro hinterzogen: Haftstrafen für Münzhändler‘.

Okay Achim Becker – the Finanzamt is the limit. Wir haben denselben Antrieb, uns stoppt die gleiche Blockade. Achim Becker, ein Hochstapler mit einem Hang zum Kitsch? Ein reicher Mann, weil er das Geld auf störtebekereske Weise eintreibt oder eigentlich ein Gutmensch, der abgeben möchte, so wie es die Gründungsphilosophie im Imagefilm zum Störtebekerhaus beschreibt. Vielleicht ist er vieles, so wie eben auch die Architektur seines Lebenswerkes. Vielschichtig und dezidiert zusammengesucht, zusammengeschraubt, zusammengeklaut. Ein Sammler von historischen Zeitschichten und ihren Relikten, von Geld und Blicken. Ich finde den Kreisverkehr sehr sinnbildlich für all das. Kreisverkehre halten den Verkehr in Bewegung und halten dabei alle Möglichkeiten bereit. Es kann in jede Richtung weiter gehen. Wohin ich mich katapultieren lasse, entscheide allein ich. Fahr wohin du willst, aber gibt Acht auf den Inner Circle, störe nicht die Blockade, schau sie an, verehre sie.